#12 – Die Welt hat ein Gefühlsproblem

Montagmorgen 07:50 – die kleine Lina wird von ihrer Mama zur Schule gebracht. Vor einigen Wochen ist sie eingeschult worden. Eigentlich lernt sie gerne, doch etwas beschäftigt sie, ohne dass sie ihr Gefühl in Worten ausdrücken kann. Deshalb klammert sie sich an das fest, was ihr Halt gibt – ihre Mama. Sie weint, hat Angst, fühlt sich offensichtlich nicht wohl. Die Lehrerin sieht die Situation und greift ein, im wahrsten Sinne des Wortes: sie versucht mit aller Kraft die kleinen Händchen von der Jacke der Mama zu befreien. Lina wehrt sich, wird noch panischer. Doch die Lehrerin versucht es weiter, redet auch noch auf sie ein und verschlimmert diese Situation nur noch weiter.

Verzweiflung macht sich breit – sowohl bei Lina als auch bei ihrer Mama.

Bevor ich die Geschichte weiterlaufen lasse, frag ich dich: Wie hättest du als Mama reagiert? Wie würdest du dich fühlen, wenn dich dein Chef gewaltsam ins Büro zerren würde? Du würdest dich wehren, oder?

Gefühle unterdrücken

Lina lässt sich nicht von der Lehrerin überreden und ihre Mama macht das, was ihr Herz ihr sagt: sie nimmt ihre Kleine liebevoll in den Arm, um ihr zu zeigen, dass sie sie versteht und für sie da ist. Sie schenkt ihr Wärme, Nähe und Vertrauen, bleibt innerlich ruhig. Die Lehrerin geht wieder in die Klasse, schaut genervt auf diese Situation, ist vielleicht sogar überfordert. Doch die Mama lässt sich nicht stressen, redet Lina gut zu, bestärkt sie und verspricht ihr, dass sie nach Schulschluss genau dort auf sie wartet.

Nach einigen Minuten beruhigt sich Lina etwas, nimmt Mamas Mütze in die Hand, damit sie ihren Geruch bei sich hat und geht langsam eigenständig in den Klassenraum. Die Mama fährt mit ruhigem Gefühl, frei von Stress, nach Hause.

Ein hoher Preis für Harmonie

Diese Geschichte ist nicht erfunden, denn sie passiert tagtäglich in der Schule. Es gibt diese Kinder, die ihren Gefühlen noch Raum geben und dabei leider oftmals bei Lehrkräften oder Eltern auf Unverständnis stoßen. In meinem Roman „Mon Amour“ (ab dem 15.12.24 erhältlich) habe ich eindrucksvoll erzählt, was es mit einem Mädchen macht, wenn sie Bedürfnisse und Gefühle viele Jahre runterschluckt und unterdrückt. Abgesehen davon, dass es die Gesundheit beeinträchtigen kann, verhindert es auch echte und tiefe Beziehungen im Leben.

Zugegeben, es ist alles andere als leicht, das eigene Kind liebevoll und ruhig zu begleiten, denn der Alltag ist bei den meisten hektisch. Dazu kommt das Gewusel und die Lautstärke in der Schule. Es herrscht hoher Druck, denn ich weiß, dass viele Eltern keine Konflikte mit den Lehrern wollen. Harmonie ist doch leichter, oder?

Ich weiß es nicht, denn der Preis für Harmonie kann sehr hoch sein. Manche Lehrer treffen Aussagen wie: „Die Angst ihres Kindes ist nicht berechtigt.“ oder „Sie müssen ihrem Kind klar machen, dass sie wissen, was gut für es ist.“ und leben damit veraltete Dogmen. Steht es uns wirklich zu, uns über unser Kind zu stellen? Wissen wir wirklich, was es braucht oder was für sie gut ist? Ich glaube nicht. Und wer sich anmaßt, die Ängste eines Kindes herunterzuspielen, hat vielleicht selbst Angst vor der Angst.

Ein unsichtbares Machtspiel

Doch in diesen Aussagen schwingt noch etwas anderes mit: unterdrückte Macht. Lies dir diese Sätze doch mal laut vor. Klingen sie nicht sehr herrscherisch und bestimmend? Und ist die Erziehung eines Kindes wirklich der richtige Ort, um Macht auszuleben? Ich denke, dass wir hier ein klares Nein platzieren müssen.

Warum gibt es denn gerade in Grundschulen mehr Frauen als Männer? Ein Punkt ist sicherlich, dass Frauen (theoretisch) und großes Einfühlungsvermögen besitzen, doch wo wird das sichtbar? Ich sehe nicht viel davon, zumindest nicht an der Grundschule meiner Tochter. Da wird teilweise einfach der Unterrichtsstoff durchgezogen, unabhängig davon, ob ein Kind weinend im Klassenraum sitzt. Vielleicht speichert das Kind in diesem Moment ab:

„Meine Gefühle sich unwichtig und meine Bedürfnisse zählen nicht. Ich darf nicht schwach sein. Ich muss funktionieren, sonst werde ich nicht geliebt.“ Ich mein, wir werden doch als Kinder dafür gelobt, wenn wir uns angepasst haben? Wenn wir uns schnell beruhigen und gute Laune an den Tag legen. Denn dann ist es für die Lehrer einfacher, dann können auch sie in ihrer Rolle funktionieren.

Aber zurück zum Thema Macht. Kann es nicht sein, dass so viele Frauen den Beruf der Grundschullehrerin wählen, weil sie unbewusst ihre Macht ausleben wollen? Ich mein, wo erlauben wir es uns denn? Nimm dir doch mal Zeit, folgende Frage für dich zu beantworten:

Wie denkst du über Macht? Was verbindest du damit? Was für (weibliche) Erfahrungen hast du damit gemacht?

Ich wette, die meisten von uns assoziieren etwas Negatives damit. Und genau da liegt das Problem. Wenn unsere Macht keinen Platz in unserem Leben haben, wenn wir nicht spüren, dass wir eine Wirkung haben oder erkennbaren Einfluss auf unser Leben haben, dann müssen wir sie an einem anderen Ort rauslassen. Es geht gar nicht anders, denn Macht will gelebt werden. Du kannst es nicht verhindern. Und wo ist es leichter als in der Grundschule? Ein Kind gewaltsam in den Klassenraum zu holen oder andere Kinder in die Schranken zu weisen, weil sie nicht still auf ihrem Platz sitzen, ist ein ungesundes Machtspiel. Von Empathie keine Spur.

Gefühle verstehen

Ein stiller Schrei nach Aufmerksamkeit

Doch nicht nur Lehrer haben ein Problem mit ihren Gefühlen, auch die Kinder und das bereits in der ersten Klasse. Man sollte meinen, dass man mit 6 oder 7 Jahren noch nicht so sehr beeinflusst ist. Aber leider ist dem nicht so. Jedes Kind lässt seine Gefühle raus und das ist nicht immer direkt erkennbar. Lina, aus der Geschichte, lässt ihre Traurigkeit fließen und sie zeigt ganz klar, was sie braucht:

die Nähe und Sicherheit einer vertrauten Person.

Dann gibt es aber auch Kinder, die nicht zuhören, Quatsch machen, andere unterbrechen, laut sind oder andere absichtlich mobben. Auch das ist ein stiller Schrei nach Aufmerksamkeit und Liebe. Doch weder die Lehrer noch die Eltern sehen diesen Ruf. Stattdessen wird zurechtgewiesen und das Fehlverhalten getadelt.

Muss Schule so sein? Nein, ich bin davon überzeugt, dass ein harmonisches Miteinander möglich ist, wenn wir einander zuhören. Warum sperren wir unsere Kinder aus der Gesellschaft aus? Anstatt ihnen unsere vermeintlichen Ideale überzustülpen, sollten wir von ihnen lernen. Denn sie leben und fühlen – noch. Und das geht auch an staatlichen Schulen ohne besonderes Konzept. Es braucht nur die Bereitschaft der Erwachsenen, sich mit der eigenen Gefühlswelt zu beschäftigen.

Und sich mit dem Thema Macht auseinanderzusetzen.

Wie heißt es so schön im Grundgesetz der BRD:

Artikel 1 Absatz 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Die Tatsache, dass dort das Wort „Gewalt“ steht, lass ich mal unkommentiert.

Aber wo achten wir denn die Würde der Kinder? Wollen wir nicht allzu oft unseren eigenen Willen auf Krampf durchsetzen, ohne dabei die Bedürfnisse der Kinder zu achten? Kennen wir denn unsere eigenen Bedürfnisse oder leben wir ein Leben, von dem wir hoffen, Anerkennung zu bekommen?

Mehr über mich findest du hier.

Du hast Fragen? Dann melde dich: its.kindofhuman@chaase.com

Oder lausche meinem Podcast auf Spotify.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert